Kino: Berlin Alexanderplatz

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Ein neues, schöneres Leben, das erhofft sich Francis (Welket Bungué), als er die weite Reise von Afrika nach Europa antritt. Doch schon auf dem Weg dorthin kommt es zur Katastrophe, als sein Schiff in einen Sturm gerät. Alle an Bord sterben, darunter seine eigene Freundin. Francis überlebt als einziger und schwört Gott, von nun an ein guter Mensch zu sein. Aber das ist nicht einfach, als illegaler Einwanderer ohne Papiere irrt er durch die Stadt. Bis er auf den Drogendealer Reinhold (Albrecht Schuch) trifft, der ihn für seine Geschäfte einspannt. Erst als er die Prostituierte Mieze (Jella Haase) kennenlernt und sich in sie verliebt, scheint ihm das Glück wieder hold zu sein. Doch da steckt er schon viel zu tief in den kriminellen Geschäften drin …

Nach seinem Schwarzweißdrama „Wir sind jung. Wir sind stark“ (>> Filmkritik), das an die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen erinnerte, als ein Wohnheim, in dem viele Vietnamesen lebten, in Brand gesteckt wurde, schnappte sich Regisseur Burhan Qurbani für seinen dritten Spielfilm einen der wichtigsten deutschen Romane des 20. Jahrhunderts: Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahr 1929. Er verlegt die damalige Handlung in die Gegenwart, aus dem urdeutschen Franz Biberkopf wird ein schwarzer Flüchtling aus Guinea-Bissau. Und auch sonst scheute er nicht davor zurück, das Buch umzuschreiben, anzupassen und neu zu interpretieren. Geblieben ist der verzweifelte Kampf des Individuums gegen die Großstadt, die Sehnsucht nach einem aufrechten, geregelten Leben in einer Welt, die dich nicht wahrnimmt, keine Chance, manchmal auch gezielt keinen Platz lässt.

Daraus hätte man ein nüchternes Dokudrama machen können. Und tatsächlich hatte Qurbani ursprünglich auch vor, zumindest die Hauptfigur mit einem Laien zu besetzen. Am Ende kam es anders, „Berlin Alexanderplatz“ ist auch nicht mit den Titeln zu vergleichen, sie sich sonst so in diesem Themenbereich herumtreiben. Anstatt auf Authentizität und Alltäglichkeit zu setzen, wird seine Interpretation der Vorlage zu einem schillernden Koloss. Ein drei Stunden dauernder Film, der die einen in den Bann zieht, die anderen in die Flucht schlagen wird.

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Es ist aber auch die Mischung aus Gegenwart und Vergangenheit, die das Drama zu einem der ungewöhnlichsten deutschen Filme des Jahres macht. Da treffen schnelle Schnitte auf elegische Szenen, eine altertümliche Sprache auf moderne Optik. Auch wenn „Berlin Alexanderplatz“ im Hier und Jetzt spielt und aktuelle Themen aufgreift, der Kampf um Würde und Zugehörigkeit findet außerhalb der Zeit statt. Als Zuschauer fühlt man sich in dem Geschehen ebenso verloren und verirrt wie Francis, der durch die Stadt taumelt, durch das Leben taumelt, dem es aber nie vergönnt ist, auch mal irgendwo anzukommen.

Verstärkt wird der mal melancholische, mal explosive Wahnsinn durch ein fantastisches Ensemble. Welket Bungué als Fremdkörper, der einer Flipperkugel gleich durch die Gegend gefeuert wird und nicht versteht, wie ihm geschieht. Die oft unterschätzte Jella Haase, die als Erzählerin wie Hoffnungsschimmer erneut beweisen darf, dass sie mehr kann als vorlautes Dummchen. Doch die wahre Entdeckung ist ein entfesselt auftretender Albrecht Schuch, der als gebückter Dämon Versuchung und Verdammnis ist. Bei Qurbani geht der surreale Albtraum mit einer Hoffnung einher, dass es ihn noch geben kann, den ersehnten Neuanfang. Dass all die umherirrenden Menschen, die keine Heimat mehr haben, eine solche finden können. Das kann man dann glauben oder nicht, so wie man hier allgemein nicht immer sagen kann, was nun real war. Aber es ist ein interessanter Schlusspunkt unter einen Film, der noch lange nachwirkt.

Fazit: „Berlin Alexanderplatz“ verlegt den bekannten deutschen Roman in die Gegenwart, macht aus der urdeutschen Hauptfigur einen afrikanischen Flüchtling und baut dies zu einem schillernden Koloss aus, der drei Stunden lang das Publikum zwischen Alltag und surrealer Hölle hin und her hetzt. Das Drama ist dabei ein stilistisches Wunderwerk, getragen von ausdrucksstarken Schauspielern, das nahegeht, obwohl es auf Distanz bleibt, im Hier und Jetzt verankert und doch nirgends zu Hause.

Wertung: 9 von 10

Regie: Burhan Qurbani; Besetzung: Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król; Kinostart: 16. Juli 2020