Danile (Bartosz Bielena) mag erst 20 Jahre alt sein, hat in der Zeit aber schon jede Menge Blödsinn angestellt. Endlich aus dem Jugendgefängnis entlassen, will er einen neuen Weg einschlagen. In seiner Zeit im Knast war er Messdiener für den Gefängnispriester, was ihn so sehr geprägt hat, dass er sich selbst dazu berufen fühlt, als Priester zu arbeiten. Doch genau das geht nicht aufgrund seiner begangenen Verbrechen. Stattdessen erwartet ihn die Arbeit in einem Sägewerk. Als Daniel sich dennoch in einem nahegelegenen Dorf als Priester ausgibt, wird er gleich zum Seelsorger der Gemeinde ernannt, die er daraufhin kräftig durcheinander bringt …
„Corpus Christi“ ist einer dieser Filme, die zahlreiche Klischees und Konventionen nehmen und dabei doch etwas ganz Eigenes daraus machen. Da wäre das grundsätzliche Szenario einer Figur, die sich für etwas anderes ausgibt und dabei erstaunlich erfolgreich ist, bis sie irgendwann doch auffliegt. Das zweite Klischee ist das des Außenseiters, der mit unkonventionellen Methoden eine bestehende Ordnung durcheinanderbringt und den anderen Menschen beibringt, die Welt noch einmal neu zu sehen und anders anzugehen. Verbunden wird das dann gern mit der Läuterung der Hauptfigur, die zuvor in einer Krise feststeckte und nun seine Berufung findet. All das gibt es in „Corpus Christi“. Es gibt die komisch-brenzligen Situationen, in denen Daniel aufzufliegen droht und denen er sich auf dreiste Weise entzieht. Es gibt die Momente, in denen er zu einem besseren Menschen wird und auch anderen tatsächlich hilft.
Doch „Corpus Christi“ ist eben mehr als das. Daniel ist auch mehr als die gute Seele, die zuvor nur ein bisschen Pech hatte und eine echte Chance brauchte. Wer genau Daniel ist, das verrät der Film dabei gar nicht. Wir erfahren nichts über sein Umfeld, seine Familie. Selbst seine Verbrechen bleiben eher vage. Dass die dunkle Seite, die ihn ins Jugendgefängnis gebracht hat, immer noch in ihm drin steckt, das wird jedoch immer mal wieder deutlich. Das polnische Drama stellt dabei eine der ganz klassischen, existenziellen Fragen: Wie viel von einem Menschen ist durch ihn selbst bestimmt, wie viel durch andere? Die Geschichte des Sträflings, der einen Priester spielt, ist gleichzeitig die eines Mannes, der gegen den ihm vorbestimmten Weg ankämpft.
Und das ist nicht die einzige Frage, die Regisseur Jan Komasa in dem Film aufwirft. Eine wichtige ist dabei die zur Rolle der Religion. Neben der Grundsatzdiskussion, welchen Zweck sie erfüllt oder zu erfüllen hat, darf auch kräftig darüber gestritten werden, wie das Ganze umzusetzen ist. Und auch von wem. Wer darf sich als Vertreter Gottes präsentieren? Braucht es dafür die formale Ausbildung und die entsprechenden Rituale? Braucht es die richtige innerliche Einstellung? Wenn Daniel auf große Resonanz bei den Menschen im Dorf stößt, dann nicht zuletzt, weil er sich eben nicht an diese Rituale und Konventionen hält und direkter zu den Leuten spricht. Weil er echtes Mitgefühl mitbringt, auch aus seiner eigenen Erfahrung, selbst Ausgestoßener zu sein.
Und doch gibt das Drama ihm keinen Freischein, gibt allgemein keine Antworten, die uns beruhigen und den Weg weisen können. „Corpus Christi“ ist ein Film über das Suchen nach einem Sinn in einer Welt, die uns einen solchen verwehrt.Ein Film über Zweifel und Sehnsüchte, über innere wie äußere Kämpfe. Dass diese Ambivalenz so gut funktioniert, ist maßgeblich Hauptdarsteller Bartosz Bielena zu verdanken, der in diesem Spannungsfeld zwischen Gewalt, Orientierungslosigkeit und Gemeinschaft seine eigene Berufung findet. Er spielt einen Mann, aus dem man selbst nie ganz schlau wird. Ein Mann, der im einen Moment die Hand reicht, um im nächsten mit dieser zuzuschlagen.
Fazit: In „Corpus Christi“ gibt sich ein jugendlicher Straftäter als Priester aus und wird plötzlich zum Seelsorger einer kleinen Gemeinde. Das hört sich wahlweise nach Komödie oder Wohlfühl-Kitsch an, ist aber keins von beiden. Stattdessen ist der Film ein höchst ambivalentes Drama über Sinnsuche, Vorbestimmtheit und die Rolle der Religion in einer trostlosen Welt.
Wertung: 8 von 10
Regie: Jan Komasa; Besetzung: Bartosz Bielena, Eliza Rycembel, Aleksandra Konieczna, Tomasz Zietek, Leszek Lichota, Lukasz Simlat; Kinostart: 3. September 2020