Früher noch die verschämte Ausnahme, heute gewohnter Anblick: Menschen fischen leere Flaschen aus Mülleimern oder Glascontainern, sammeln öffentlich Leergut. In einem Lehrforschungsprojekt untersuchten Dr. Alban Knecht und Philipp Catterfeld zusammen mit Studenten der Hochschule München zwei Semester lang das Thema.
Herr M., 56 Jahre alt, war erfolgreicher Diplom-Ingenieur mit eigener Firma. Bis zur Pleite. Danach änderte sich sein Leben von Grund auf: zu alt für den Arbeitsmarkt, Arbeitlosengeld II, Flaschensammeln. „Das Schlimmste, was uns passieren konnte“, beklagt er, „ist diese doofe Idee, leere Flaschen und Dosen auf oder neben den Müllbehälter zu stellen. So kann jede Hausfrau, die auf dem Weg zum Einkaufen ist, eine beim Vorbeigehen mitgehen lassen.“ Denn Herr M. braucht das Pfand dringend, um jeden Tag etwas zu essen auf dem Tisch zu haben.
Ganz offensichtlich steht beim Flaschensammeln das Geld im Vordergrund – besonders angesichts der horrenden Lebensunterhaltskosten in München. Rentner, Migranten ohne Arbeitserlaubnis, Langzeitarbeitslose, Erwerbsunfähige, Menschen, die nach einem Schicksalsschlag durch das soziale Netz gefallen sind: Sie alle brauchen die 15 bis 25 Cent pro Flasche oder Dose, um einigermaßen über die Runden zu kommen.
Auffallend in München ist, dass deutsche Pfandflaschen-Sammler meist über 50 Jahre alt sind und in der Regel lange Zeit aktiv im Arbeitsleben verankert waren. Wegen gesundheitlicher Einschränkungen, fehlender beruflicher Qualifikation oder aufgrund ihres Alters sind sie nun nicht mehr vermittelbar – und müssen von sozialen Leistungen leben. Obwohl es nicht reicht, scheuen sie den Gang zu Vater Staat: „ Ich will doch dem Staat nicht auf der Tasche liegen, es gibt doch so viele, die hilflos sind und das Geld dringender brauchen“, erklärt sich ein Betroffener. Als Kinder der Nachkriegszeit ehren sie den Cent – und sammeln das Geld auf, das auf der Straße liegt.
Armut also ist der wichtigste Beweggrund. Doch den 35 teilnehmenden Studenten kam es während ihrer Forschungsarbeit nicht nur darauf an, scheinbar Offensichtliches zu bestätigen. In Interviews und Selbstversuchen versuchten sie, das Thema anhand unterschiedlichster Blickwinkel und Fragestellungen zu erhellen.
Wie reagieren wir auf Menschen, die auf der Suche nach ein paar Cent den Abfall durchwühlen? Wir fühlen sich die Flaschensammler selbst? Es geht um Schämen und Fremdschämen, um Rechtfertigungsversuche der Sammler, für eine Arbeit, die ganz unten angesiedelt ist: Umweltschutz, Gesundheit, Spaß, Spenden für arme Tiere und Menschen werden da angeführt.
Es geht aber auch um unser eigenes Konsumverhalten: Die einen feiern und trinken an der Isar, vor der Disko, beim Fußballspiel in der Arena – die anderen räumen unseren Müll für ihre Existenzsicherung weg.
Fazit: Für alle, die nicht beschämt wegschauen, sondern genauer hinschauen wollen, die passende Lektüre. Anhand vieler unterschiedlicher Perspektiven wird ein aktuelles Bild der Überlebenskünstler Münchens gezeichnet. Ein unorthodoxes, realitätsnahes Forschungsprojekt!
Philipp Catterfeld, Alban Knecht (Hrg.): Flaschensammeln – Überleben in der Stadt // UVK Verlagsgesellschaft // Konstanz, München, 2015 // 184 Seiten // ISBN 978-3-86764-624-6 // 24,99 €