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Im Gespräch: Tocotronic

Von der verqueren Kunst des Scheiterns >> Tocotronic auf dem 20. Prima Leben und Stereo.

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten bereichern Tocotronic die deutsche Musikszene um wahrhaft lyrische Lyrics voller fröhlich-bedrohlicher Wahrheiten. Als Headliner rocken die Hamburger das Freisinger Festival Prima Leben und Stereo am 2. und 3. August, um das Doppeljubiläum gebührend zu zelebrieren. Wir verkürzen euch die Wartezeit: curt im Gespräch mit Frontmann Dirk von Lowtzow – wie es sich gehört über irgendwie alles und irgendwie nichts.

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Riecht oder stinkt es um euch gerade nach Erdbeer?
Glücklicherweise nicht. Das sind üblicherweise Ausdünstungen eines schlechten, getriebenen und rastlosen Charakters. Im Augenblick herrscht bei uns eitel Sonnenschein, Sabbat und innere Ruhe.

Wie bleibt man sich und seinen Fans 20 Jahre treu, ohne langweilig zu werden?
Man muss stetig einen wirren Kopf bewahren und bereit sein, Liebe zu geben und zu empfangen.

Die Form der Texte hat sich mit der Zeit offensichtlich verändert. Eure Texte erinnern heute auf eine Art an Filme von Stanley Kubrick oder Lars von Trier. Viele Wege, keine Schilder. Wie würdet ihr selbst den Wandel beschreiben und weshalb war er notwendig?
Es wundert uns immer ein bisschen, dass uns diese Frage gestellt wird, denn im Laufe von 20 Jahren muss sich zwangsläufig die „Lust am Text“ verändern – sonst wird es ja auch langweilig! Und das wollen wir ja unbedingt vermeiden. Viele Wege, keine Schilder – das klingt großartig! In Deutschland gibt es ja meistens zu wenig Wege und zu viele Schilder. Nicht nur im Straßenverkehr.

Gibt es denn etwas, das alle Zeilen vereint, sie im Innersten zusammenhält?
Vielleicht: der Wille zur Selbstzertrümmerung. Alle unsere Texte haben ein autodestruktives Element. Und natürlich Humor. Wir sind eigentlich ein Comedy-Act, nur merkt das keiner.

Es scheint, als sänget ihr heute eher für als gegen etwas. Lässt sich in Worte fassen, was das ist?
Es gab in der letzten Zeit ein gewisses Überangebot an Intellektuellen, Künstlern und selbsternannten Wissenschaftlern, die sich als die letzten Widerständler gegenüber einer angeblich gleichgeschalteten öffentlichen Meinung inszenierten – die Palette reicht vom Ernst-Jünger-haften Feuilleton-Dandy, der auf die modernen Zeiten schimpft, bis zu den rassistischen Ressentiments eines Thilo Sarrazin und der antisemitischen Dichtung eines Günter Grass.

Widerstand und Dagegensein hat – kurz gesagt – leider einen leicht reaktionären, mindestens aber opportunistischen Touch bekommen. Demgegenüber fanden wir einen Begriff wie Emanzipation interessant. Wir wollten auf dem Album „Wie wir leben wollen“ ein paar Wege aufzeigen – ohne Schilder aufzustellen, wie du es bereits so treffend formuliert hast. Vielleicht ist das eine verquere Kunst des Scheiterns. Wie sie in den SpongeBob-Filmen propagiert wird.

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Ich war auf einer großartigen David-Bowie-Ausstellung in London, wo auch seine sehr intuitive und assoziative Technik, Texte zu komponieren, dargestellt wurde, unter anderem per Mischung von Satzfetzen am PC. Wie läuft der Schreibprozess bei euch ab?
Das ist ein sehr handwerklicher Prozess, denn mich persönlich interessiert – bei allem Spaß am Experiment – der gut geschriebene Song doch am meisten. Ich mag Konventionen, denn zu viel Freiheit macht mich arm. Wenn ich das Wort „Cut-up-Methode“ oder den Namen William S. Burroughs höre, muss ich leider auch immer ganz viel gähnen. Aber natürlich: Ein guter Künstler ist immer ein Vollzugsorgan, jemand, der dem gehorcht, was die Sache oder seine Komposition von ihm will. Was er schafft, „gehört“ ihm nicht, die Wörter haben einen eigenen Willen.

Gibt es auf „Wie wir leben wollen“ Verse oder einen Song, der euch aus einem besonderen Grund am Herzen liegt?
Vielleicht das Titelstück, da es unsere Idee für das Album hoffentlich auf den Punkt bringt. Und „Abschaffen“, weil ich es eine wundervolle Vorstellung finde, den Tod abzuschaffen.

Was an der neuesten Platte ist wirklich und wahrhaftig neu?
Keine Ahnung. Gibt es so etwas überhaupt?

Wie wollt ihr persönlich auf keinen Fall leben, sagen wir, die nächsten 20 Jahre?
Eine sehr gute Frage! Also ich sage jetzt mal: Ich möchte nicht aufhören, mich für etwas zu begeistern und zu lernen. Dann würde ich mich wirklich tot fühlen.

Und ohne Haare auf dem Kopf möchte ich auch nicht so gerne leben – ich habe abstehende Ohren.

Ihr habt euch mehr als sonst dem Pop hingegeben. Gibt es für euch auch musikalische Grenzen?
Auf jeden Fall. Wie ich schon sagte: Ich finde das Arbeiten innerhalb gewisser Regeln und Konventionen sehr wichtig. Dieses Quadrat, innerhalb dessen man sich bewegt, kann natürlich beliebig weit ausgedehnt, die Ecken ausgeleuchtet werden. Aber ich habe große Angst vor der Beliebigkeit, nach dem Motto: morgens Tango, abends Pogo. Außerdem sollte man vielen Musikrichtungen den nötigen Respekt dadurch zollen, dass man sie begeistert anhört, sie aber gerade NICHT nachzumachen versucht. Beispielsweise Free Jazz, den ich heiß und innig liebe, oder Dub-Reggae.

Wir Münchner dürfen uns auf das „Prima Leben und Stereo“ in Freising freuen, das in diesem Jahr ebenfalls seinen 20. Geburtstag feiert. War das für euch ein Grund zuzusagen?
Unter anderem ja. Wir freuen uns sehr auf einen wunderschönen Sommerabend.

Wir wünschen dem PLUS …
… ein dickes PLUS am Ende des Festivals.

Einen kleinen Ausblick aufs Programm?
Hits and misses. You decide!

Vielleicht noch einen spontanen persönlichen Gruß ans Münchner Publikum?
Wir spielten Anfang April in München. Was das Publikum uns in der dortigen Tonhalle geboten hat, war einfach unbeschreiblich. Ich habe selten so ein tolles, sexy, cooles und gut gelauntes Publikum erlebt. Kein Geschleime. Jahrhundertkonzert! Danke dafür, ihr lieben MünchnerInnen! Lasst uns das wiederholen!

Das Interview führte Christina Herbert.

 

>> curt präsentiert das Prima Leben und Stereo 2013.

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