Radikal, verstörend, unbequem – „Tore tanzt“ sticht aus der oft gefälligen deutschen Kinolandschaft stark hervor, wie wir euch in unserer Rezension schon verraten haben. Das ist auch ein Verdienst von Julius Feldmeier in der Rolle eines Jugendlichen, der sich von einer Familie versklaven und foltern lässt. Dafür erhielt er am Sonntag in München den AUDI Actors Award. Kurz vorher trafen wir den Jungschauspieler und konnten ihm einige Fragen zu dem Film, seiner Rolle und dem Bösen im Alltag stellen.
Du hast bislang ja vor allem an Theater gespielt. Wie war es, jetzt mit „Tore tanzt“ deinen ersten Kinofilm zu drehen?
Man muss sich ganz anders vorbereiten. Beim Theater hast du sechs Wochen Probezeit für gemeinsames Ausprobieren, bis am Ende ein Ergebnis steht. Und selbst während der Vorstellung kannst du daran noch weiterarbeiten. Beim Film ist es so, du hast eine Vorbereitungszeit und dann deinen Dreh. Was da eingefangen wird, das kann dann verwertet werden oder eben nicht. Es steht dann aber halt und ist im Kasten, wie man so schön sagt. Deswegen muss man eigentlich schon fertig sein, wenn es angefangen hat. Und das heißt, dass du dir schon vor dem Dreh darüber klar sein musst, wie die Figur sein soll. Wie ist seine Körperlichkeit? Wie waren die Entwicklungen? Wie ist seine Sprache? Das sind alles Fragen, die muss man für sich beantwortet haben.
Am Ende der Vorbereitungszeit, wer war Tore dann für dich?
Wichtige Stichpunkte waren seine große Einsamkeit. Ich hab mir da so eine fiktive Familiengeschichte überlegt. Ein fehlender Vater, eine überforderte Mutter. Geschwister, mit denen es schwierig war und wo es Übergrifflichkeiten gab auf beiden Seiten. Er ist nicht dumm oder behindert, sondern einfach mit den Strukturen überfordert. Er brauchte seine eigenen Wege und die hat man für ihn nicht gefunden. Und damit ist er immer weiter aus den gesellschaftlichen Kontexten rausgefallen. Und dann kommen eben so Sachen wie die Jesus Freaks ins Spiel. Ich hab also versucht, für all die Sachen, die in dem Film so überreligiös und spirituell rüberkommen, biografische Elemente zu finden.
Da du schon dieses Überreligiöse erwähnst: Viele Zuschauer werden mit Sicherheit ein Problem damit haben nachzuvollziehen, warum er sich verhält, wie er sich verhält.
Natürlich. Wenn ich den Film jetzt gucke, merke ich auch, dass es ab einer bestimmten Zeit immer schwieriger wird, sich mit ihm zu identifizieren. Und das ist sehr anstrengend, weil man fast alle Identifikationsfiguren mit der Zeit verliert, die man als Erwachsener haben kann. Die Kinder sind vielleicht zu weit weg. Mit denen hat man höchstens Mitleid. Aber Mutter, Vater, Tore – das sind alles Leute, die einem entgleiten, weil die Entscheidungen treffen, gegen die man sich wehrt. Entscheidungen, von denen man aber weiß, dass andere Leute sie auch treffen. Leute, die man eigentlich als normal bezeichnet. Stichwort London, da ist es gerade wieder passiert. Permanent tauchen irgendwelche Leute auf, die andere versklavt haben. Selbst heute noch.
Um jemanden zu versklaven, braucht es aber auch immer jemanden, der sich versklaven lässt. Es gibt ja Hoffnungssituationen, in denen Tore wirklich ausbrechen könnte. Er ist nicht angekettet, er ist nicht finanziell abhängig. Warum geht er nicht einfach?
Ich glaube, es hat was mit dem zu tun, was ich vorhin meinte: Er hat sonst niemanden. Es sind Leute, die er liebgewonnen hat. Und wenn man sieht, dass die einzigen Leute, die dir etwas bedeuten, den direkten Weg in die Hölle nehmen, ist es dann nicht nachvollziehbar, alles dafür zu tun, das zu verhindern? Er nimmt das, was er hat und tut alles, was er kann. Und das finde ich dann wieder groß und edel und wunderbar, dass man Leute nicht einfach aufgibt. Dann kommt noch hinzu, wenn man das Religiöse wieder mit rein nimmt, dass er darin seinen Auftrag sieht. Wenn man überzeugt ist, einen göttlichen Auftrag zu haben, dann ist es nur folgerichtig, Übermenschliches leisten zu wollen.
Ist er denn damit ein Vorbild? Ein Held? Oder einfach nur weltfremd?
Ich finde, er ist ein Vorbild, eben weil er weltfremd ist. Wenn jemand nicht in die Gesellschaft passt und aufs Übelste und Brutalste zerstört wird, demontiert, vergewaltigt, getötet, dann ist das gerade ein Zeichen dafür, dass er ein Vorbild sein muss. Denn wie gehen wir mit Leuten um, die nicht in unsere Kultur passen? In unsere Denkstrukturen, unsere Wirtschaftsstrukturen? Ich finde, das steckt alles in dem Film mit drin. Durch die Weise, wie er funktioniert und sich verweigert, löst Tore extreme Widerstände aus. Daraus etwas Positives zu ziehen, finde ich die schönere Version.
Anstatt ihn einfach nur als Idioten zu bezeichnen.
Genau. Denn das ist eine reine Abwehrreaktion, um sich nicht damit auseinanderzusetzen.
So wie bei Astrid. Die ist ja nicht wirklich begeistert, als Tore mitgeschleppt wird.
Die hat keinen Bock auf ihn, traut sich aber nicht, was zu sagen. Sie findet ihn weird, er überfordert sie, sie weiß nicht, wie sie mit ihm umgehen soll. Er ist so ziemlich das Letzte, was sie gerade braucht. Aber um der Harmonie willen und um der neuen Beziehung willen, geht sie halt mit. Und dadurch entlädt sich viel später auch dieser Hass. Weil sie sich da hat reindrängen lassen. Weil sie nicht kommuniziert hat. Weil insgesamt einfach nicht offen in dieser Familie kommuniziert wird.
Jemanden abzulehnen, ist das eine. Aber sie geht später ja doch sehr weit und fängt an, ihn zu foltern. Und nicht nur sie, auch die Nachbarn. Manchmal auch, ohne dass es überhaupt einen konkreten Anlass gibt. Warum machen die das?
Es gibt ganze Regale mit Büchern, die sich dieser Frage widmen. Warum machen wir das? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es gab da ein Hamburger Polizeibataillon zur NS-Zeit, da habe ich mal ein Projekt drüber gemacht. Das waren Lehrer, Architekten, keine Ahnung, Reservisten, die nach Polen geschickt wurden und dort Wachdienst machen sollten. Als die da ankamen, das ist wirklich passiert, hat ihnen der Kommandant unter Tränen gesagt, dass sie hier sind, um Juden zu erschießen. Mit diesem immanenten Wunsch, bitte widersetzt euch dem. Und es haben alle geschossen. Leute, die mit beiden Füßen im Leben standen, einen Bildungshintergrund hatten, die die Weimarer Republik kennengelernt haben. Also keine geistig verblendeten.
Haben wir denn alle diese Veranlagung zum Bösen? Dass wir so etwas machen können wie die Figuren im Film?
Ich glaube ja. Vielleicht nicht in uns allen, aber ich würde behaupten, in den meisten von uns. Auch von mir selbst ausgehend. Ich weiß, dass ich Leute an der Schule wirklich krass fertig gemacht habe. Einfach aus der Situation heraus, dass es einem vorher selbst so ging und man sich da freikämpft und selber nach oben katapultiert, indem man mitmacht. Mobbing an der Schule ist ein wunderbares Bild dafür, wozu wir in der Lage sind. Wo Kindern nicht klar ist, was sie einander antun. Und das setzt sich als Erwachsener dann fort.
Herzlichen Dank, Julius Feldmeier, für das Gespräch.
Das Interview führte Oliver Armknecht.