Ton Steine Scherben Interview curt München

Im Gespräch: R.P.S. Lanrue von Ton Steine Scherben

/

In den 70er-/80er-Jahren waren sie die Helden von Andersdenkern, machten „Musik für Leute mit schönen Illusionen und für Leute mit Wut“. 30 Jahre nach ihrer Auflösung sind „Ton Steine Scherben“ wieder da: ohne Rio Reiser, dafür auf neun Leute aufgestockt. Hier das inspirierende Interview mit R.P.S. Lanrue, dem Gitarristen und Komponisten der Band.

Geht das überhaupt die Scherben ohne Rio Reiser?
Man kann Rio natürlich nicht ersetzen. Allerdings muss ich anmerken: Heute werden alle Sänger mit Rio verglichen – das war ja früher nicht so. Viele kannten ihn zu seinen Lebzeiten noch nichtmal! Es gibt durchaus auch andere Sänger, die charismatisch sind und unsere Songs authentisch rüberbringen können.
Und letztendlich geht es um die Songs – die haben wir ja gemeinsam geschrieben und gespielt. Bestimmte Songs hab ich seit 18 Jahren nicht mehr gespielt. Aber es ist unser gemeinsames Werk – ich kann ja nicht aufhören, Musik zu machen, auch wenn er fehlt. Wir haben über 30 Jahre zusammengelebt und hatten auch außerhalb der Band eine gute Beziehung.

Ton Steine Scherben Interview curt München
Im „Wohnzimmer“ der TON STEINE SCHERBEN-Wohngemeinschaft in Berlin am Tempelhofer Ufer 32 (1972). Foto: Rita Kohmann

Bei der aktuellen Tour spielen wir mit komplett neuer Besetzung – bis auf Frankie, Kai und mich. Es gibt einen Sänger und eine Sängerin und jeder Song wird von jemand anderem gesungen. Es wird auch spezielle Gastauftritte geben – in jeder Stadt einen anderen.
Insgesamt betrachte ich das alles als Test. Wenn das so rüberkommt, wie es sich grade bei den Proben anfühlt, wird das was Gutes! Es waren jetzt drei Proben, es ist eine gute Chemie, wir haben Lust zu spielen, freuen uns auf die Tournee. Wir spielen auch Stücke, die Ton Steine Scherben aus verschiedenen Gründen nie gespielt haben.
Was dabei rauskommt, ist für mich genauso spannend wie für alle anderen. Aber gerade für uns aus der Urbesetzung ist es gut, die Songs zu spielen. Es geht uns besser, seit wir proben. Allein dafür war es die Mühe schon wert. Ich hoffe, dass wir gut ankommen, dass alles funktioniert.
Ich habe seit meinem Ausstieg aus Rios Soloband kaum noch Konzerte gegeben. Zum 60. Geburtstag gabs noch ein Event, sonst nur kleine Gigs. Als es jetzt mit den Proben losging, musste ich mir erst wieder eine Gitarre besorgen. Es kamen allerdings noch keine Klagen vonseiten der Band – das Üben hat sich also wohl gelohnt! (lacht)

30 Jahre später: Wie hat sich die Ideologie der Band verändert? Sind die Auftritte jetzt reine Nostalgie oder haben sie eine politische Note?
Wir sind Künstler, machen Songs, die sind unsere Sprache. Die haben eine Wirkung oder nicht, wir sind nicht dogmatisch, haben keine Botschaft in dem Sinne.

Womit hast du/habt ihr euch die Zeit vertrieben in den letzten Jahren?
Jeder hat unterschiedliche Sachen gemacht – z.B. die Scherben Family. Fast jeder hat weiter Musik gemacht. Auf der Homepage, die demnächst online geht, wird der Werdegang von allen Bandmitgliedern erzählt.
Ich selbst habe nach Rios Tod acht Jahre in Portugal gelebt, bis ein Waldbrand mir dort alles zerstörte. Wieder zurück nach Berlin-Kreuzberg zu kommen, war wie eine Zeitreise …

Welche Zielgruppe, welche Art von Fans erwartet ihr auf eurer Tour? Wiedersehen mit den alten? Viele junge?

Traditionell waren bei unseren Konzerten immer schon zwei bis drei Generationen gemischt und so wird es, denk ich, auch jetzt sein. Ich staune selbst immer wieder, wie populär wir sind, obwohl wir quasi im Untergrund gelebt haben!

Gibt es euren Traum von einer klassenlosen Gesellschaft noch? Oder anders gefragt: Was ist von den Träumen und Idealen der 68er-Generation geblieben?
Der Drang nach Freiheit ist ja nicht spezifisch für diese Zeit. Diese Sehnsucht muss bleiben und ich werde alles tun, dass das so bleibt und sie sich erfüllt. „Der Traum ist aus“ behandelt dieses Thema ja. Wir müssen daran glauben, sonst können wir die Songs nicht glaubwürdig rüberbringen.

Stimmt es, dass ihr damals oft wenig bis kein Geld für die Auftritte bekommen habt und trotzdem aufgetreten seid, weil es euch ein wichtiges Anliegen war? Wovon habt ihr denn gelebt?
Es waren ungefähr 90 % Solidaritätskonzerte, abends haben wir z.B. in Unis gespielt. Wir haben teilweise gesammelt, haben unsere eigenen Platten gepresst und die verkauft. Das hat jedoch meist grade so gereicht.

Ihr habt die Musiklandschaft Deutschland stark geprägt und unsagbar viele Gruppen beeinflusst – das muss euch doch auch etwas stolz machen …
Als Komponist macht mich das durchaus stolz! Man macht ja die Musik erstmal nicht für Musiker und ich freu mich enorm, dass wir so viele inspiriert haben.

„Der Kampf geht weiter“ wurde von rechtsradikalen Gruppen gecovert und antisemitisch verändert. Habt ihr euch gegen die Songcover gewehrt?
Das ist schon in der Anfangszeit öfter passiert, es ist jedoch schwer, dagegen anzukommen bzw. weiß ich nicht, wie man sich dagegen wehren sollte. Wenn man’s bei der GEMA anmeldet, kann das im Prinzip jeder covern. Das kann man leider nicht vermeiden. Es gibt auch zig Fassungen von „König von Deutschland“. „Wenn ich Trainer von Schalke wär“ etc.

Wie siehst du das: Gibt es noch Hoffnung auf Veränderung oder sind wir schon rettungslos im Kapitalismus versunken?

Das System ist leider fast genauso ungerecht wie früher. Die Leute sollen sich durchaus wehren. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ ist heute genau so aktuell wie 1971.

Enttäuscht euch die eher unpolitische Jugend heutzutage?
Es gibt durchaus noch Wutpotenzial. Man kriegt schon auch mit, dass die Jugend sich auflehnt. Allerdings ist es schwer für mich, für die Jugend zu sprechen. Da müsste man evtl. jüngere Leute aus der Band fragen … (lacht)

Es gibt ein legendäres Interview von Nickel Pallat 1971 im WDR, bei dem er einen Tisch zertrümmert und Mikros einsteckt. Wie siehst du das: Braucht es auch heutzutage eine kritischere Einstellung zu den Medien?

Das war damals hart. Die Medien haben uns ja gespielt, aber großteils nicht verstanden. Es gibt aber auch heutzutage noch genug Talkshows, wo man einen Tisch zerhacken könnte … Aber die Medienlandschaft ist unfassbar groß. Ich wüsste gar nicht, wo ich da angefangen würde.

Inzwischen hat ein bekannter Baumarkt euer „Mach kaputt, was euch kaputt macht“ für Werbezwecke verunglimpft. Stört euch so etwas?
Ach. Das kümmert mich nicht wirklich. Ein Online-Versandhandel hat ja z.B. auch eine Langhans-Kopie in seinem Spot verwendet (oder vielleicht war er’s ja auch selber) und im Hintergrund stand „Keine Macht für niemand“ an der Wand … Ich staune einfach nur, wie wenig Ideen die haben – dass sie das nötig haben, ist ein Armutszeichen für die Kreativabteilungen. Aber wir haben aber offenbar Standards gesetzt.

Das Interview mit R.P.S. Lanrue erschien in gekürzter Fassung im curt Stadtmagazin München #77 SCHÖNE SCHEISSE:

Das Gespräch führte Petra Kirzenberger.