Kino: Ema

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Ema (Mariana Di Girolamo) und Gastón (Gael García Bernal) hatten sich unbedingt einen Sohn gewünscht und zu diesem Zweck den kleinen Pablo adoptiert. Das ging eine Zeit lang gut. Doch der Junge entpuppt sich als kaum zu bändigender Wildfang, der zudem gern mit dem Feuer spielt. Als er dabei Emas Schwester gefährlich verletzt und entstellt, reicht es dem Paar und es gibt den Adoptivsohn wieder zurück. Vom Alltag ist im Anschluss aber nichts zu spüren. Immer wieder kreisen sich die Gedanken der zwei um das Kind, fragen sich, wie es ihm wohl gehen mag, verstärkt durch die Vorwürfe der anderen. Aber auch beruflich geht es für die Tänzerin und den deutlich älteren Choreografen turbulent weiter …

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Pablo Larraíns neuer Film „Ema“ setzt das zuvor gezeigte Stilbewusstsein fort, ist aber doch irgendwie ganz anders. Die erste große Frage, die Larraín aufwirft: Worum geht es hier eigentlich? Anstatt von Anfang an die Karten auf den Tisch zu legen, dauert es hier schon eine Weile, bis man die Puzzleteile zusammengesetzt hat und die aktuelle Situation kennt. Ob es das gebraucht hätte, darüber kann man sich streiten. Inhaltlich bringt das Rätselraten, weshalb sich von Anfang an irgendwie alle hier streiten, nicht so wirklich was. Aber um den Inhalt geht es in dem Drama eben auch nur bedingt.

Dabei ist das Thema durchaus spannend. Wie geht man damit um, ein Adoptivkind zurückgegeben zu haben? Wie soll man sich einem brutalen, zerstörerischen Kind gegenüber überhaupt verhalten? Der Junge wird dabei nie zu einem tatsächlichen Charakter, sondern bleibt ein Objekt, über das alle nur in der dritten Person reden. Das ist eine interessante Alternative, verstärkt noch einmal den Aspekt, dass schwierige Kinder hin und her geschoben werden, ohne dass man sie ernst nimmt und versucht auf sie einzulassen.

Das hört sich nach einem schweren Sozialdrama an, ist aber doch ganz anders. So wird „Ema“ von einer spannenden zwischenmenschlichen Dynamik getragen. Wenn Ema und Gastón aufeinandertreffen, dann fliegen in einem solchen Ausmaß die Funken, dass es überhaupt keinen zündelnden Jungen mehr braucht, um die komplette Leinwand in Brand zu stecken. Sie provoziert laut, drängt in dem Film immer mehr darauf, sich auszudrücken – sei es verbal oder im Tanz. Er ist mehr der intellektuelle, passiv-aggressive Mensch, der mit Worten sein Gegenüber zerstört. Doch trotz der vielen Verletzungen ist man sich nie ganz sicher, ob dies nun gut oder schlecht ist. Handelt es sich um eine toxische Beziehung, die zum Wohle der beiden ein Ende finden sollte? Oder brauchen die beiden das, sowohl um ihr Leben voranzutreiben und die inneren Schmerzen vergessen zu machen?

Darüber darf man spekulieren, wie so viele andere Punkte in „Ema“. Der Film ist gleichzeitig nah am Leben und völlig überzogen, sodass man nie genau weiß, ob das hier Realität oder Groteske sein soll. Ob Larraín etwas über die Menschen aussagen möchte oder einfach nur ein Feuerwerk abfackeln wollte. So oder so, das Ergebnis ist faszinierend, mit teils grandiosen Bildern und bebend vor Energie. Der chilenische Filmemacher hat ein Drama über die Möglichkeiten der Kunst gedreht, wenn der Tanz Ventil und Ausdruck in einem ist. Eine Demonstration ungefilterter Emotionalität, die nicht auf Manipulation zurückgreift, sondern Konfrontation. Hier wird nicht einfach die Vergangenheit brav abgearbeitet, sondern lustvoll in den Boden gestampft, wenn eine entfesselte Mariana Di Girolamo erst einmal in Schwung gekommen ist und um sie herum nichts mehr ist, wie es einmal war.

Fazit: „Ema“ ist einerseits die Geschichte eines Paares, das nach der Aufgabe eines Adoptivsohns explodiert, gleichzeitig die einer Tänzerin, die in einem wilden Rausch alles um sich herum in Brand steckt. Der Film wirft viele Fragen auf, ist aber mitreißend und energiegeladen. Er fesselt auch durch grandiose Bilder, die in der Zerstörung Schönheit entdecken.

Wertung: 8 von 10

Regie: Pablo Larraín; Besetzung: Mariana Di Girolamo, Gael García Bernal, Paola Giannini, Santiago Cabrera, Cristián Suárez; Kinostart: 22. Oktober 2020