Vorweg sei gesagt: So ganz hab ich die Original-Message in Eyal Weisers Stück „Nystagmus – eine große deutsche Kunstausstellung“ nicht mitgeschnitten. Damit steh ich aber sicherlich nicht allein da. Zu komplex und verwirrend scheinen die fiktiven Biografien und symbolischen Darstellungen von NS-Opfern und -Tätern, Geisterbeschwörern, Künstlern und Tanzderwischen, die eigentlich Hitlers Attacke auf die Moderne Kunst im Rahmen der Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 behandeln sollen.
Moderne Kunst galt für Hitler als entartet, die Künstler als gestört – und augenkrank. Nystagmus nennt sich jene Krankheit – ein unkontrolliertes Zucken der Augenmuskeln – die er den Kunstschaffenden unterstellte, die seinem Urteil nach unfähig waren, die Realität so abzubilden, wie sie in seinen Augen erschien.

Der israelische Regisseur Eyal Weiser verwebt beim Versuch, dieses Thema zu behandeln, verschiedene fiktive Handlungen und Biografien zu einem ungewöhnlichen Stück und erzählt exemplarische Geschichten, die den Wahnsinn und die Folgen des 3. Reiches behandeln.
Zu Beginn wird der Zuschauer durch eine Kunstausstellung geführt, kaum hat er Platz genommen, erklärt der „Kurator“ Anton Ehrlich (Oliver Möller), die Kunst sei wohl der letzte noch verbliebene Gedanken- und Entscheidungs-Freiraum. Im dritten Reich war dem sicher nicht so. Und heute? Darf Kunst alles? Soll Kunst alles dürfen? Ist Kunst verstehen eine Kunst? Ist dem Kleingeist die Kunst nicht in jeder Epoche und in vieler Hinsicht ein Dorn im zuckenden Auge? Für mich hat das Stück am ehesten diese Fragen aufgeworfen. Aber nun der – ähem – Reihe nach.

Eine große Projektion einer schwarz bemalten Frau, deren Mund mit etwas aufgespreizt ist, das sie geifern und ihr den Speichel über die Lippe tropfen lässt. Dieser unkontrollierbare Reflex und das Zwinkern ihrer Augen lassen überhaupt erst darauf schließen, dass diese Person lebendig bzw. das Bild bewegt ist. Verstörend wirkt die Frau, die sich wohl auf diese Weise distanzieren und schützen, gleichermaßen aber eine Reaktion vom Umfeld provozieren will. Ungeschützt und verletzlich scheint sie, und zugleich beobachtend und prüfend.
Im nächsten „Akt“ der teilweise etwas konfus wirkenden Inszenierung zeichnet Max Wagner als Uriah Rein-Merchav – ganz in Weiß gekleidet und mit bemerkenswertem schauspielerischem Talent – ein Porträt seiner Tante, einer Feministin und Künstlerin, die 1941 von den Nazis aufgrund ihrer Schizophrenie hingerichtet wurde. Toneinspielungen und eine Videoprojektion erzählen zudem die Familiengeschichte des Künstlers: sein Großvater ein SS-Leutnant, der nach dem Krieg mit gekauften Papieren als Staatsanwalt praktiziert, seine Mutter, die gegen das Nazi-Elternhaus rebelliert und nach Israel geht, wo sie in einem Kibbuz seinen Vater kennen und lieben lernt. Kurz vor Uriahs Geburt fällt der Vater im Libanon-Krieg, die Mutter daraufhin in eine schwere Depression.
Als „Werbeblock“ zwischendrin haben Zwillingsbrüder als Tanz-Derwische ihren Auftritt. Sie bringen einen Dialog aus Claims und Schlagwörtern unserer Werbewelt dar, der unterhaltsam, prägnant und scharfsinnig die Absurdität unserer Konsumgesellschaft und das Schönreden von künstlich erzeugten Bedürfnissen vor Augen führen – untermalt von rasch wechselnden Clips und Bildern auf einer Leinwand.
Dann wird das ganze ziemlich absurd, um nicht zu sagen: irgendwie bescheuert und nervig. Und gleichermaßen amüsant und kurios. Die Episode über ein Medium namens Sibylle Lang (Ursula Maria Burkhart) ist im mildesten als schrullig zu bezeichnen,und mir persönlich hat sich der Bezug zum Thema leider nicht erschlossen. Kurz gesagt: Auf diesen Teil der Vorstellung hätte ich gut und gern verzichten können.
Ein weiterer Auftritt der tanzenden Brüder (die sich so lang im Kreis drehen, dass mir beim zuschaun schwindlig wurde!), danach das Finale mit dem exzentrischen Künstler Bruno Spatz (Jean-Luc Bubert), der mit seiner Muse, Assistentin und Lebensgefährtin Magdalena Wiedenhofer eine Art sozialkritische Performance auf die Bretter legt. Das ganze spielt in einem Kunst-Käfig, die wohl für die Beschränkung der Kunst steht. Kunst scheint nur frei solange sie sich schön im Rahmen des logischen, ästhetischen, populären bewegt. Doch Spatz schreit und tobt, enthauptet seine Denkstrukturen, entnabelt sich von seinen Kritiken und pisst darauf und verstrickt sich zuletzt vollends in sein Werk. Mit den lauten Rufen: „Wollt Ihr die totale Interpretation?!“ geht das Stück also dem Ende zu und somit mein Artikel. Meines Erachtens muss ein Theaterstück nicht komplett zerpflückt werden. Es muss auch nicht unbedingt stringent sein, um neue Denk-Räume zu schaffen, nicht hundertpro innovativ, um zu amüsieren, nicht in jedem Detail perfekt, um im gesamten zu unterhalten.
Entgegen der Meinung vieler anderer Kritiker – allen voran der grauen Eminenz der SZ, der nach der Vorstellung einen recht deutlich hörbaren Tobsuchtsanfall hinlegte – bin ich dem Stück und auch den Mitwirkenden insgesamt durchaus gewogen. Es war nicht alles neu, es war nicht alles schön, aber insgesamt humorig bis irrwitzig und es tut für mich, was Theater tun soll: Aufmischen, polarisieren, unterhalten.
Zudem hallte ein Satz noch den ganzen Abend durch meinen Kopf: Habt Zweifel an den Führern, die Ihr Euch selbst kreiert.
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TEXT: PETRA KIRZENBERGER // FOTOS: VOLKSTHEATER