“Jetzt hast du uns die obligatorische Standardfrage gar nicht gestellt,” sagt die Band lachend nach über zwei Stunden Interview im Trachtenvogl. Einer der Klassiker schlechthin ist ja die Frage nach dem Ursprung des Bandnamens, nicht nur im Fall von Rue Oberkampf. Aber für das Interview war ich Dank Recherche vorab top vorbereitet – im Gegensatz zum ersten Auftritt, den ich im Juli gesehen hatte.
“Hab das Briefing nicht bekommen”
Mein erstes Konzert nach dem Corona-Lockdown. Im Feierwerk. Katzenclub. Ich als “Plus 1” meiner besten Freundin hatte einfach mal zugesagt, ohne groß zu recherchieren und zu überlegen, inwiefern das Ganze mit irgendwelchen Katzen zu tun haben könnte: ein Konzert, endlich wieder, bin dabei! Bei Ankunft an der Location hatte ich dann meine ersten Bedenken, ob ich auf der richtigen Veranstaltung gelandet war. Ein Meer aus schwarz gekleideten Menschen, durchgestylt, heiß auf live gespielte Musik aus ihrer Szene. Und mittendrin wir Zwei, die eine im Blumenkleid, die andere in ihrem besten French-Girl-Look. Verwirrte Blicke bei der kleinen großen Masse, ein sehr vorwurfsvoller Blick von mir an meine Begleitung.
Das Briefing zur Veranstaltung hatte ich definitiv nicht erhalten. Aber eben auch keine konkrete Vorstellung davon, wie der Abend zu laufen hatte. Dementsprechend frei von Erwartungen bin ich dann in das Sitzkonzert von Rue Oberkampf gegangen. Die Situation “Sitzkonzert” mit Absperrbändern und sehr reduziertem Publikum vergrößerte das Unbehagen, das wohl viele Introvertierte in völlig unplanmäßigen sozialen Situationen ereilt. Aber als die Band die dunkle Bühne betrat und Julia die ersten Beats auf ihrem E-Drumpad neben ihrem Mikro anschlug, löste sich nicht nur meine Anspannung, sondern so gut wie alle Anwesenden ließen sich sofort von der lange ersehnten Live-Musik mitreißen und wippten auf ihren Stühlen mit. Plötzlich waren wir zwei Außenseiter Teil der Community und ich hin und weg von dem Auftritt von Julia, Damien und Michael.
Starkes Debütalbum und dann … Danke, Corona, für nichts.
Wie bei einem dieser avantgardistischen Konzerte von Goethes Erben – so fühlte sich der Auftritt in diesem Setting für die Band an, aber man sah ihnen schon deutlich den Spaß an, den sie auf der Bühne hatten. Schließlich war es eine der wenigen Gelegenheiten, Songs ihres aktuellen Debütalbums Christophe-Philippe live zum Besten zu geben. Corona hat Rue Oberkampf nämlich ordentlich einen Strich durch die Rechnung gemacht.
2020 sollte ein Jahr voller Auftritte mit den neuen Tunes werden: Gigs und Festivals in Deutschland, Portugal, UK und nicht zuletzt in Russland. Vor allem auf St. Petersburg und Moskau hatten sich die Drei schon besonders gefreut und wer ihre bisherigen Musikvideos gesehen hat, kann sicherlich erahnen, welche starken visuellen Eindrücke die Band in der postsowjetischen Landschaft einfangen könnte. Ihre Songs, geschrieben und eingespielt in einer kleinen, abgeschiedenen Hütte in Bayern … die würden sie gerne in die Welt hinaustragen.
Eine Hütte, drei Passauer, viele neue Songs
Den Grundstein für das Album legten die Drei bei einem ihrer regelmäßigen Aufenthalte in einer Hütte im Bayerischen Wald. Einige Tage weit weg vom Alltag, im Gepäck ein paar erste Ansätze für Melodien und Textfragmente. Dank der stillen Abgeschiedenheit finden sie so in gemeinsamer kreativer Arbeit am besten zu neuen Songs, üblicherweise von der Melodie hin zu den Lyrics im letzten Schritt. Um die Songtexte kümmert sich Julia, die am Ende den Songs auch ihre unverwechselbare Stimme verleiht.
Parlez-vous Français? So lala
Dank ihrer Bilingualität kann Julia hier geschickt mit der Stimmung spielen, die ihre Vocals jeweils auf Deutsch oder Französisch erzeugen können. Deutsche Songs wie “Es versucht” scheinen den Hörer eher auf Abstand zu halten, wohingegen man von Julias Stimme auf Französisch unvermittelt auf eine Reise mitgerissen wird, wie im Klassiker “Sourires.” Ob die beiden Jungs immer verstehen, was Julia da in ihrer zweiten Muttersprache singt?
“Nicht immer!”, geben Damien und Michael da lachend zu. Während des Songwritings lege Julia auch häufiger einen nicht zusammenhängenden Singsang über neue Melodien, wenn die Lyrics noch nicht final sind, quasi als Platzhalter. “Da kommt’s dann schon vor, dass wir uns in genau diese Kombination aus Musik und ‘Worten” bzw. Lauten verlieben, aber die ergeben halt leider keinen Sinn.” Was man bei Rue Oberkampf aber wohl nie finden wird, sind niederbayerische Lyrics.
Von “Passau, mon amour” zu “Minga, Baby”
Ursprünglich stammen alle drei Bandmitglieder aus Passau, wobei es Michael und Julia mittlerweile nach München verschlagen hat. Die Liebe zum Auflegen in Clubs und auf einschlägigen Events verband die Drei damals in der Heimat recht schnell – EBM, Wave, Postpunk, das legten und legen sie immer noch gerne als DJs auf. Michael und Damien verband schon länger eine Leidenschaft für Synthesizer und “in der Szene da trifft man irgendwie doch immer wieder dieselben Gesichter.” So auch irgendwann Julia und ihre Stimme.
Fotos aus den frühen Passauer Zeiten halten sie leider unter Verschluss, aber Damien ist zumindest den Erzählungen der beiden anderen zufolge am tiefsten und schwärzesten in der Szene verwurzelt. Wobei Julia gesteht, dass sie selbst ab circa 13 Jahren zuerst über Metal und dann Goth den Zugang gefunden hatte, inklusive der dazugehörigen Frisuren, der passenden Mode sowie dem Anzünden von Friedhofskerzen, wie sie angenehm selbstironisch erzählt.
Ganz einfach: ColdEBMigerTechnoPunkWave
Begonnen hatten die Drei mit einer Coverversion eines Songs von Absolute Body Control, bis sie sich schließlich an die Aufgabe heranwagten, sich auf ihre eigene Kreativität zu verlassen und selbst Musik zu kreieren. In einem anderen Interview beschreiben sie ihren Stil in einem langen Wort als ColdEBMigerTechnoPunkWave. “Wir würden es total gerne sehen, wenn sich hier in Deutschland die verschiedenen Subkulturen mehr mischen, so wie wir es auch in unserer Musik tun.”
Mit strahlenden Augen erzählen sie von einem Event in Helsinki, wo sich an einem Ort Vertreter und Fans u.a. von Wave, Drag und EBM zusammengefunden und gemeinsam Spaß hatten. Irgendwann nach diesen verrückten Corona-Zeiten könnten sie sich vorstellen, selber so ein musikalisches Live-Erlebnis mit Bands verschiedener Stile auf die Beine stellen. Irgendwann …
Lieber live auf der Bühne als digitale Abenteuer
Corona zieht sich wie ein roter Faden durch das Gespräch, denn es beeinflusst die Band wie uns alle auch privat, beruflich und eben auch in der liebsten Nebenbeschäftigung der Welt, der Musik. Während viele Musiker und Clubs insbesondere während des Lockdowns ihre Musik mithilfe von Livestreams aufleben ließen, traute sich Rue Oberkampf zumindest kurzfristig an ein anderes Experiment, nämlich den eigenen Podcast.
Die Grundidee war simpel: ein freier Dialog mit anderen Musikern, die man persönlich kennt oder bewundert. Die Umsetzung stellte sich dann aber nach nur wenigen Episoden als äußerst schwierig heraus. “Da steckt dann doch mehr dahinter als ‘einfach mal drauf losreden.’ Da waren spätestens im Editing so viele ‘ähms’, Seufzer und sprachliche Tics, die wir dann rausschneiden mussten oder einfach rausschneiden wollten. Das lag uns einfach doch nicht so. Obwohl die Idee an sich schon gut war.” Die wenigen Episoden liegen jetzt zwar wohl auf immer und ewig in den Untiefen einer Festplatte vergraben, aber zumindest unter den Dreien sorgen die Erinnerungen für große Lacher, was einmal mehr den starken Zusammenhalt der Bandmitglieder widerspiegelt.
New Normal, fresh Rue Oberkampf
Nach und nach ergeben sich wieder Möglichkeiten für Live-Auftritte, doch wie, wo und wann voll gepackte Shows wie früher möglich sein werden, das steht derzeit noch in den Sternen. In der Zwischenzeit fokussiert sich Rue Oberkampf zum einen auf neue Musik. Erst kürzlich haben sie das Video für ihre nächste Single abgedreht, die noch in diesem Jahr erscheinen wird. Zum anderen scheint das “New Normal” die Drei noch näher zusammen zu schweißen, da auch die Bandmitglieder zum Teil für längere Zeit nur digital Kontakt halten konnten. “Wir wissen uns, unsere Musik und unsere Band dadurch einfach sehr bewusst zu schätzen.”
Die Frage nach dem Bandnamen ließe sich hier jetzt noch recht einfach klären. Aber findet es selbst heraus, googelt die Band, folgt ihnen auf Instagram und ‘stay tuned for new tunes.’
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