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In the Studio: Cy Twombly – der größte Verführer der Stadt

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Tausende verzweifelte Autoren befassen sich seit einigen Jahren mit der Kunst, einen Fremden zum impulsiven Kuss hinzureißen. Eine der bekanntesten Techniken nennt sich „Der nackte Mann“: Hier wird das Gegenüber angesichts des unerwartet entblößten Körpers in einen Schockzustand versetzt, der ihn seiner wilden Libido ausliefern soll. Cy Twombly dreht dieses Spiel ganz ohne manipulatives Kalkül um – aktuell im Museum Brandhorst.

2007 konnte eine begeisterte Museumsbesucherin in Avignon nicht an sich halten und drückte ihre Lippen fest auf das Gemälde „Phaedrus“. Die Kosten für die Entfernung des Kussmundes beliefen sich auf 18.400 Euro. Eine Nebenbuhlerin in Houston verzichtete daher auf das Tragen von Lippenstift, als sie in Ergriffenheit gegenüber Twomblys Gemälden die Kleider auf den hellen Museumsboden sinken ließ, um dem Meisterwerk als „Die nackte Frau“ gegenüberzustehen.

Die großformatigen Werke des US-amerikanischen Künstlers bestechen durch knallige, wie zufällig hinunterlaufende Farben, die von gekritzelten Kringeln, Strichen und Buchstaben übersäht sind. Trotz der klassischen Motive wie Rosen, mythologische Szenen und historische Schlachten gelingt es den abstrakten Werken, vollkommen neu und fesselnd zu wirken. Kaum ein Künstler wird so häufig zum Gegenstand philosophischer Überlegungen. Auch unter Kunsthistorikern wird Twombly hoch gehandelt, wie beispielsweise seine 400 m² große Deckenausmalung im Louvre zeigt. Die Frage ist nur: Warum?

Die geheimen Techniken des Verführungskünstlers

Die Faszination für seine Gemälde liegt in dem ständigen Wechsel zwischen zwei Betrachtungsweisen. Im ersten Moment lesen wir die Verse auf den Rosenbildern. Wir versuchen die Bedeutung von Ingeborg Bachmanns, T.S. Eliots und Rainer Maria Rilkes Gedichten zu verstehen. Im nächsten Moment nehmen wir die Kringel und Buchstaben wiederum als rein visuelles Element des rhythmischen, stakkatoartigen Malstils wahr. Twomblys Werke drängen uns zu der Erkenntnis, dass es zwischen Bedeutung und Form einen Dritten Raum gibt. Sie machen uns deutlich, dass sich die Welt eben nicht in Beschreibbarkeit und Bedeutung erschöpft. Seine Werke weisen uns auf etwas hin, das sie weder eindeutig zeigen noch benennen können. Durch ihre Andeutungen wecken sie jedoch unsere Neugier.

Twomblys Lepanto-Zyklus ist so abstrakt gemalt, dass die ovalen Farbkleckse erst beim Lesen des Titels zu Schiffen werden. Innerhalb des Zyklus wechselt die Perspektive von Bild zu Bild. Dieser ständige Perspektivwechsel greift das Umschlagen der Betrachtungsmodi formal auf. Er schließt die einzelnen Gemälde gerade durch diesen Rhythmus zu einem Werk zusammen. Auch bei den weißen Bildern glauben wir aufgrund der kleinen Punkte und Striche im weißen Raum von oben auf eine Szene zu blicken. Die Vogelperspektive gleicht dem Blick auf eine Landkarte oder der Betrachtung durch ein Mikroskop. Sie ist eine Metapher für den systematischen Charakter menschlicher Erkenntnis. Twombly lässt uns aber nicht selbstzufrieden in diesem sicheren Abstand verweilen. Seine intensiven, transgressiven Farben und Formen treten uns sofort entgegen. Sie fordern uns auf zu abstrahieren. Somit bleiben wir im ständigen Hin und Her zwischen ästhetischer Ergriffenheit und fragender Neugier gefangen. Vielleicht betreten wir bei diesem ständigen Wechsel den Dritten Raums, der uns Twomblys Gemälde so bedeutungsvoll erscheinen lässt.

Im Museum Brandhorst gibt es noch bis zum 26. August 2018 die Möglichkeit, sich in Twomblys Rosenbildern, seinem Lepanto-Zyklus und seinen weißen Bildern zu verlieren – oder ihnen einen Kussmund aufzudrücken.


Tipp: An Sonntagen kostet die Ausstellung nur einen minimalistischen Euro Eintritt! (An allen andern Tagen ist der Normalpreis 7 Euro/ermäßigt 5 Euro). Dienstags ab 15 Uhr und samstags ab 16 Uhr gibt es außerdem öffentliche Führungen.